Radikalisierung auf Imageboards: Wie 8chan unter neuem Namen zurückkehren soll

Auf dem Imageboard 8chan sollen sich die Attentäter von El Paso, Christchurch und Halle radikalisiert haben. Inzwischen ist die Seite offline. Der Betreiber kämpft mit allen Mitteln darum, das zu ändern. Doch er hat einen starken Gegner.

Jim Watkins
Der 8chan-Betreiber Jim Watkins verkündet neue Pläne. (Bild: YouTube/Watkins Xerxes | Bearbeitung: netzpolitik.org)

Der Mann, der einen der dunkelsten Orte des Internets wiederbeleben will, steht zwischen blühenden Bäumen und singt: „Go tell it on the mountain, over the hills and everywhere.“ Es ist Ende Oktober und Jim Watkins hat etwas anzukündigen. Er kichert in die Kamera seines Smartphones, mit dem er live bei YouTube streamt. „8kun ist online, aber es ist schwer, es zu finden. Denn man kann es nicht sehen.“ Kaum einer seiner Zuschauer:innen scheint zu verstehen, was er meint.

Dabei soll 8kun der Nachfolger des berüchtigten Imageboards 8chan werden. Seit August ist es nicht mehr erreichbar, eine Million Nutzer soll es dem Betreiber zufolge gehabt haben. Watkins wird später behaupten, er habe es freiwillig aus dem Netz genommen. Aber das ist nicht die ganze Wahrheit.

15. März, Christchurch, Neuseeland: Ein weißer Mann erschießt in einer Moschee 51 Menschen und verletzt 49 weitere.

27. April, Poway, Kalifornien: Ein weißer Mann erschießt in einer Synagoge einen Menschen und verletzt drei weitere.

3. August, El Paso, Texas: Ein weißer Mann erschießt in einem Walmart 22 Menschen und verletzt 24 weitere.

Die Taten wurden auf 8chan angekündigt

Die Taten sind Akte rechtsextremistischen Terrors. Alle drei haben außerdem gemeinsam, dass sie zuvor bei 8chan angekündigt wurden. Einen Tag nach dem Massaker in El Paso werden sie auch für Jim Watkins zum Problem. Für den Mittfünfziger mit dem Schnauzbart, der sein Geld mit einer japanischen Pornoseite verdient hat, beginnt ein Kampf um das, was er für Meinungsfreiheit hält.

Für seine Gegner:innen ist es ein Kampf gegen eine Website, auf der Menschen einander in ihren rassistischen, sexistischen und homophoben Weltanschauungen bekräftigen. Unter dem Schutz der Anonymität hat sich eine düstere Subkultur aus Manga-Mädchen, Nazi-Memes und Gewalt gebildet. Es gibt Hinweise darauf, dass sich auch der mutmaßliche Attentäter von Halle hier radikalisiert hat.

In einem von dem Tatverdächtigen veröffentlichten Dokument bezieht sich dieser an einer Stelle namentlich auf den ehemaligen Betreiber des 8chan-Unterforums für Videospiele, eine außerhalb der Szene gänzlich unbekannte Person.

All die Vorfälle lassen kaum Zweifel daran: 8chan ist zu einer globalen Gefahr geworden.

Der Gründer zerstört sein eigenes Werk

Wegen dieser Entwicklung macht sich am 4. August Watkins’ früherer Angesteller Fredrick Brennan daran, sein eigenes Werk zu zerstören. 2013 hatte er 8chan gegründet. Die Katastrophe begann mit dessen Prämisse: Zugedröhnt mit psilocybinhaltigen Pilzen hatte Brennan, der wegen einer Erbkrankheit im Rollstuhl sitzt, nach eigenen Aussagen die Idee, ein Imageboard zu programmieren, in dem unendliche Freiheit herrschen würde: „Infinite Chan“, also 8chan.

„Ich war nicht naiv. Ich hatte erwartet, dass es seltsame Pornografie oder gelegentlich Todesdrohungen geben würde“, sagt der 25-Jährige. „Aber ich hätte nie gedacht, dass die Foren voll sein würden von Leuten, die zu Attentaten aufrufen und Nutzer zu einer Art internationaler Terroristen-Armee werden.“

Schon vor den Anschlägen ist er ausgestiegen und hat die Website Watkins überlassen, der sie weiter von den Philippinen aus betreibt. „Ich fühle mich verantwortlich, weil ich 8chan diesem Typen gegeben habe, der es nutzt, um in den USA als Bösewicht wahrgenommen zu werden“, so Brennan. Watkins hatte 8chan übernommen, weil Brennan das Geld gefehlt habe, um das Imageboard alleine zu betreiben.

Nach dem Anschlag in El Paso geht der Gründer in die Offensive. In diesen Stunden macht ein Gerücht in den sozialen Netzwerken die Runde: Der Attentäter habe seine Tat in Wirklichkeit gar nicht bei 8chan angekündigt.

Brennan sitzt an seinem Computer in der philippinischen Hauptstadt Manila und verfasst einen Post, den er über die Plattform Pastebin veröffentlicht. Es wird der Auftakt einer mehrmonatigen Jagd durchs Netz sein, bei der er IP-Adressen zurückverfolgen und Internetdienstleister auf drei Kontinenten vor Jim Watkins warnen wird.

CloudFlare kündigt 8chan

Brennan schreibt, es sei völlig ausgeschlossen, dass jemand nachträglich ein falsches „Manifest“ veröffentlicht habe. Er verweist auf einen sogenannten Hash-Algorithmus, der ihm zufolge die Authentizität des Dokuments belegt. „Ich habe dieses Feature programmiert – ich muss also wissen, wovon ich rede!“ Einige Stunden vergehen. Dann ist 8chan offline.

Das Unternehmen CloudFlare hat dem Imageboard gekündigt und dieses so aus dem Netz befördert. „Sie haben bewiesen, dass sie gesetzwidrig sind und das hatte viele tragische Tode zur Folge“, erklärt CloudFlares CEO Matthew Prince in einer Stellungnahme. 19 Millionen Websites auf der ganzen Welt schützt der Dienstleister nach eigenen Angaben vor sogenannten DDoS-Attacken. Bei solchen schicken Angreifer einem Server mithilfe von Bot-Netzen so viele Anfragen, bis dieser überlastet wird und dadurch nicht mehr erreichbar ist.

Doch der Schritt, den CloudFlare unternommen hat, gilt als heikel. Das Unternehmen hat nicht staatliche Anweisungen befolgt, sondern unter öffentlichem Druck nachgegeben. Erst einmal zuvor hatte es Vergleichbares getan, als es die amerikanische Neonazi-Website The Daily Stormer vor die Tür setzte. „Die sind schnell zurückgekehrt, indem sie einen Konkurrenten von CloudFlare genutzt haben“, schreibt Prince. „Ich habe kaum Zweifel daran, dass das Gleiche mit 8chan geschehen wird.“

Wenig deutet zunächst darauf hin, dass das sogenannte Deplatforming tatsächlich funktionieren kann. Binnen kürzester Zeit zieht das Imageboard um. Wie schon The Daily Stormer kommt 8chan bei dem Unternehmen BitMitigate unter. Dieses wirbt damit, die Meinungsfreiheit schützen zu wollen. Aber Brennan und andere schlagen erneut zu: Sie bemerken, dass BitMitigate für seinen DDoS-Schutz auf Technik des amerikanischen Dienstleisters Voxility zurückgreift und benachrichtigen diesen. Darauf schaltet Voxility wesentliche Teile von BitMitigate mitsamt dessen Kunden ab. 8chan verschwindet erneut.

„Die Menschen stellen sich das Internet als etwas vor, das in der Cloud existiert“, sagt Brennan. „Aber in Wahrheit besteht es aus Routern und Leitungen, die relativ wenigen Firmen gehören. Diese können beeinflussen, was online bleibt und was nicht.“

Eine Ansprache wie ein Militärbegräbnis

Jim Watkins meldet sich mit einer Ansprache per YouTube-Video zu Wort. Im Hintergrund erklingt eine Trompete wie bei einem Militärbegräbnis. Watkins stellt sich als Opfer dar. „Große Unternehmen schieben die Schuld auf kleine!“, schimpft er. „Unsere Firma hat immer mit den Strafverfolgungsbehörden zusammengearbeitet.“

Gegen seine Behauptung spricht, dass die philippinische National-Polizei ihn über die Medien auffordert, er möge sich endlich bei ihr melden. Der Ausschuss für Heimatschutz des amerikanischen Repräsentantenhauses schickt ihm zudem eine Vorladung: Watkins soll nach Washington kommen und zu dem Imageboard aussagen.

„Ich bin kein Extremist“, schreibt er dem Ausschuss per Email, bevor er ins Flugzeug steigt. Die Anhörung findet hinter verschlossenen Türen statt. Trotzdem lässt sich erahnen, was sich in den Räumen des Kongresses am 5. September abspielt. Über seinen Anwalt hat Watkins schon im Voraus eine Stellungnahme eingereicht. „Mein Unternehmen hat nicht die Absicht, von der Verfassung geschützte Hassrede zu löschen“, heißt es darin. Schon seit einem Monat ist 8chan zu jenem Zeitpunkt offline. Falls die Website wieder online gehe, wolle er zusätzliche Schritte unternehmen, um gegen Inhalte vorzugehen, die illegal sind – allerdings nur nach den Gesetzen der USA.

Ein Buchstabe am Kragen: Q

Warum er diesen Ärger überhaupt auf sich nimmt, darauf gibt er einen Hinweis, als er kurz nach der Anhörung ein Foto veröffentlicht. Es zeigt ihn vor dem Kapitolgebäude, am Hemdkragen trägt er einen Anstecker mit einem einzelnen Buchstaben: Q.

8chan steht im Zentrum einer Art Superverschwörungstheorie, die außerhalb der USA kaum jemand wahrnimmt. Sie beruht auf mehr als 3.000 Posts einer unbekannten Person oder Gruppe, die sich QAnon nennt, kurz Q. Es geht um Insider beim Militärgeheimdienst, einen Staat im Staat, die „Mächtigen“ wie Hillary Clinton und US-Präsident Donald Trump. Dessen Feinde sollen demnach am Tag der „Großen Erweckung“ ausgeschaltet werden.

Qs Nachrichten sind kryptisch, häufig enthalten sie Prophezeiungen, die nicht eintreten. Zunächst hatte Q sie auf dem Imageboard 4chan veröffentlicht, nach wenigen Wochen aber zu 8chan gewechselt. Knapp zwei Jahre ist das jetzt her. „Menschen mögen Geschichten und QAnon ist wie ein Thriller“, sagt der Verschwörungstheorie-Forscher Mike Rothschild, der die Entwicklung von Anfang an beobachtet.

Das Phänomen beschränkt sich nicht mehr nur auf das Internet. Rothschild schätzt, dass QAnon inzwischen 50.000 bis 100.000 treue Anhänger hat. Regelmäßig tauchen sie mit „Q“-Schildern bei Wahlkampfveranstaltungen von Donald Trump auf. Der Forscher hält die Verschwörungstheorie für gefährlich. „Man kann die Leute mit dieser Idee eines Kriegs zwischen Gut und Böse nicht ewig bei Laune halten. Irgendwann wird jemand die Sache selbst in die Hand nehmen.“

Doch für QAnon führt kein Weg an 8chan vorbei. Und so herrscht Funkstille, seit das Imageboard offline ist. Nur dort kann Q bei neuen Posts seine Identität belegen – mithilfe eines sogenannten Tripcodes, einem technischen Erkennungsmerkmal, das eng mit der Website verknüpft ist. Wann immer Jim Watkins an die Öffentlichkeit geht, betteln QAnon-Anhänger:innen um Neuigkeiten. „Die Community ist immer noch sehr aktiv“, sagt Mike Rothschild. „Deshalb ist Watkins wohl so heiß darauf, die Website zurückzubringen.“

8kun: Das alte Imageboard unter neuem Namen

Am 11. September unternimmt Jim Watkins einen weiteren Anlauf, um genau das zu tun. Mithilfe einer Art Briefkastenfirma gründet er im US-Bundesstaat Mississippi ein neues Unternehmen: Is It Wet Yet, Inc. Es soll sich von nun an um alle Angelegenheiten kümmern, die mit 8chan zu tun haben. Anfang Oktober kündigt er dann eine Nachfolge-Website an: 8kun.

Die wenigen Minuten, die 8kun tatsächlich im Netz ist, hinterlassen kaum Zweifel daran, dass Watkins seinem alten Imageboard lediglich einen neuen Namen verpasst hat. Wesentliche Teile sind identisch. Über 8chans Twitter-Konto werden zudem frühere Betreiber von Unterforen aufgefordert, sich per Email bei 8kun zu melden. Mehr als 200 sollen diesem Aufruf gefolgt sein. Doch das größte Problem bleibt bestehen.

„DDoS-Angriffe sind so billig, dass es ohne einen DDoS-Schutzfilter schwer bis unmöglich ist, im Internet eine kontroverse Seite zu betreiben“, sagt Kolja Weber. Aus dem europäischen Ausland betreibt der Deutsche den Internetdienstleister FlokiNET. „Nachdem 8chan damals von CloudFlare rausgeschmissen wurden, hat es keine 48 Stunden gedauert, bis sie bei uns angeklopft haben. Wir haben ihnen unmissverständlich zu verstehen gegeben, dass ihre Seite illegal ist.“

Watkins versucht dennoch alles. Bei mindestens sieben unterschiedlichen Hosting-Unternehmen meldet er in den folgenden Wochen Webserver an. Fredrick Brennan sitzt in dieser Zeit vor seinem Computerbildschirm und sieht zu, wie die von ihm programmierten Skripte 8kun nachspüren. Wann immer er einen Treffer landet, geht er an die Öffentlichkeit. „Ich habe dazu beigetragen, dieses Imageboard aufzubauen – also bin ich die geeignetste Person, um es zu zerstören.“

Er twittert eine IP-Adresse, die nach London zu dem Anbieter Zare führt. Als er feststellt, dass 8kun Technik der Konzerne Alibaba und Tencent angemietet hat, schreibt er einen offenen Brief und lässt ihn auf Chinesisch übersetzen. Einer nach dem anderen scheint das Imageboard zu deplatformen. „Die Macht, die die großen Internetdienstleister haben, ist enorm“, sagt Brennan. „Aber wenn Menschen sterben, ist es nicht zu rechtfertigen, dass sie diese Macht nicht auch eingesetzten.“ Am 25. Oktober taucht 8kun bei Selectel in Russland auf. Wieder schlägt Brennan Alarm. Und wieder führt Watkins’ Domain wenig später ins Nichts.

„Wenn ihnen in den USA niemand Platz bietet, werden sie woanders auch keinen finden“, sagt Kolja Weber. Dennoch bezweifelt er, dass es möglich sein wird, eine Website endgültig aus dem Netz zu verbannen. „Niemand hält 8chan davon ab, seinen eigenen Dienstleister zu starten.“

Tatsächlich betreibt Watkins mit seinem Unternehmen N.T. Technology an der amerikanischen Westküste seit rund 20 Jahren einen Webhoster. Ein DDoS-Schutzfilter gehört nicht zu dessen Angebot. „Dazu braucht es Infrastruktur im großen Stil, außerdem Wissen und Geld“, so Weber. Es ist unklar, ob Watkins selbst die finanziellen Mittel hierfür aufbringen könnte. Gerade erst hat er für T-Shirts geworben, die er mit dem 8kun-Logo bedrucken lassen und verkaufen möchte.

Das unsichtbare 8kun als dezentrales Netzwerk

Eine Interview-Anfrage von Netzpolitik.org lässt Jim Watkins unbeantwortet. Aber als er am vergangenen Samstag zwischen den blühenden Bäumen steht und YouTube-Zuschauer:innen ihn fragen, warum genau man 8kun nun eigentlich nicht sehe könne, kommt er ins Plaudern. „Wir haben ein Programm geschrieben, das ihr auf eurem Computer installieren könnt.“

Sein Plan sieht so aus: 8kun soll erst mal als dezentrales Netzwerk starten, so schnell wie möglich. Glücklich scheint er damit noch nicht, denn diese Technik könnte die Anonymität der Nutzer:innen gefährden. „Es gibt ein paar Schwachstellen: Wenn ihr die Seite besucht, könnten die Leute, die einen 8kun-Knoten betreiben, herauskriegen, wer ihr seid.“ Vielleicht lässt 8kun deshalb weiter auf sich warten. Etwas geschieht aber doch, allerdings in El Paso.

Die Angehörigen von Angelina Silva Englisbee, die bei dem Terroranschlag getötet wurde, reichen Klage ein. „Wir wollen den Hass stoppen“, sagt ihr Anwalt am Dienstag bei einer Pressekonferenz. „Wir versuchen einen neuen Maßstab zu setzen und zu zeigen, dass diejenigen, die solche Aktivitäten unterstützen, finanziell alles verlieren können.“ Die Klage richtet sich gegen die Familie des Attentäters, aber auch gegen 8chan-Eigentümer Jim Watkins, Gründer Fredrick Brennan und CloudFlares CEO Matthew Prince. Sie alle trügen eine Mitschuld an der Tat.


Textlizenz: Creative Commons BY-NC-SA 4.0

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